Sinn und Unsinn
des Herdentriebs
bei Prognosen
„Die meisten Prognosen sind gut, aber die Zukunft kümmert sich wenig darum.“
Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger
In der Finanzindustrie spielen Prognosen eine tragende Rolle. Sie basieren auf der Analyse historischer Daten, aktueller Entwicklungen oder Umfragen und werden oft herangezogen, um Finanzprodukte zu vermarkten. Trotz technologischer Fortschritte und der wachsenden Informationsverfügbarkeit erweisen sich Prognosen häufig als falsch, unvollständig oder überinterpretiert. Die Gründe für die begrenzte Aussagekraft von Prognosen für Kapitalmarktentwicklungen liegen in der Komplexität der Märkte, der menschlichen Psychologie und im Auftreten von unvorhersehbaren Ereignissen. Die seit der Pandemie im Mittel angestiegene Volatilität an den Aktienmärkten (Abb. 1), gemessen an den Volatilitätsindizes VIX* und VSTOXX*, kann auch als Symptom mangelnder Prognosegüte und damit verbundener Unsicherheit verstanden werden.
Komplexität der Finanzmärkte
Die Finanzmärkte sind komplexe Systeme, die von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden. Diese Faktoren umfassen makroökonomische Indikatoren, politische Entscheidungen, Unternehmensnachrichten, Branchentrends und vieles mehr. Die Interaktion dieser Faktoren kann zu häufigen Änderungen der Prognosen und somit zu Überraschungen führen. Dies zeigen die Surprise Indizes** von Citi (Abb. 2) deutlich. Erschwerend kommt hinzu, dass relevante Indikatoren unter nahezu identischen Voraussetzungen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich reagieren. Hier spielt oft die Vorgeschichte oder die menschliche Psychologie eine Rolle. Für Prognosemodelle ist es somit schwer, auf Grundlage heterogener Daten, die zudem immer weiter auseinanderdriften, präzise Vorhersagen zu treffen.
Menschliche Psychologie und Verhaltensökonomie
Die menschliche Psychologie spielt eine wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung von Anlegern. Emotionen wie Gier, Angst und Selbstüberschätzung beeinflussen die Handlungen von Anlegern und können zu irrationalem Verhalten führen. Diese Verhaltensmuster sind schwer vorhersehbar und können zu plötzlichen Marktbewegungen führen, die nicht durch fundamentale Faktoren zu begründen sind. Untersuchungen der Verhaltensökonomie zeigen, wie kognitive Verzerrungen und Emotionen das Anlageverhalten und die Entscheidungsfindung von Individuen beeinflussen bzw. systemische Fehler in den Kapitalmarkteinschätzungen erzeugen. Durch diese Faktoren können häufig Abweichungen von rationalen und effizienten Markttheorien erklärt und ein besseres Verständnis von Marktanomalien erlangt werden.
Begrenzte Datenverfügbarkeit und Informationsasymmetrie
Obwohl in der heutigen Zeit enorme Mengen an Daten verfügbar sind, bleiben einige Informationen für Analysten und Prognosemodelle unzugänglich. Dies kann auf vertrauliche Informationen, Insider-Handel oder fehlende Transparenz zurückzuführen sein. Informationsasymmetrie kann dazu führen, dass Anleger unterschiedliche Entscheidungen treffen, was die Vorhersage der Marktbewegungen erschwert.
Eine vieldiskutierte Hoffnung liegt in der rasanten Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Bei aller Faszination, die diese neue Technologie ausstrahlt, bleiben wir bezüglich valider Prognosen mit Hilfe künstlicher Intelligenz noch skeptisch. Man denke nur an den begrenzten Datensatz von ChatGPT, der konstruktionsbedingt dem Jahr 2021 entnommen wurde. Themen wie der Krieg in der Ukraine spielen hier noch keine Rolle und können somit für Prognosen nicht verarbeitet werden.
Unvorhersehbare Ereignisse
In der Finanzwelt werden unvorhersehbare, seltene und teils extreme Ereignisse oft als sogenannte Black Swans bezeichnet. Sie haben mitunter weitreichende Auswirkungen auf die Finanzmärkte, die Wirtschaft und die Gesellschaft. Häufig unterschätzen Menschen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Black Swans. Auch wenn der Name eher negativ belegt ist, können Black Swans nach ihrem Auftreten zu positiven Veränderungen in der Gesellschaft führen.
Beispiele für Black Swans sind die Finanzkrise von 2008, Naturkatastrophen wie der Tsunami im Indischen Ozean im Jahr 2004, Pandemien wie COVID-19, oder - ganz aktuell - die plötzliche Bankenkrise ausgehend von den USA im Februar 2023. Solche Ereignisse offenbaren oft Schwächen in bestehenden Systemen und führen zu Veränderungen in Regulierung, Risikobewertung und Anlagestrategien. Sie können auch langfristige Veränderungen in der Wirtschaft und im Verhalten von Anlegern bewirken. Sie bleiben jedoch auf Grund ihres erratischen Auftretens immer eine große Herausforderung für Prognosemodelle und Risikomanagement.
Es ist wichtig zu betonen, dass Black Swans trotz ihrer Seltenheit und Unvorhersehbarkeit keine Anomalien sind, sondern ein integraler Bestandteil der Finanzmärkte und der Wirtschaft. Sie erinnern uns daran, dass wir stets bescheiden sein sollten hinsichtlich unserer Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, und bereit sein müssen, unsere Modelle und Annahmen ständig zu hinterfragen und anzupassen. Letztendlich können sie wertvolle Lektionen über das Wesen von Risiko und Unsicherheit lehren und dazu beitragen, widerstandsfähigere Systeme und Anlagestrategien zu entwickeln, indem man sich auf die Robustheit von Portfolios und die Vorbereitung auf unerwartete Ereignisse konzentriert. Dass Prognosen sich bei Auftreten seltener Verwerfungen irren können, belegen die Recession Probability Forecast Indices von Bloomberg (Abb. 3), die mittels Umfragen unter Analysten und Ökonomen die Wahrscheinlichkeit einer direkt bevorstehenden Rezession messen sollen. Die Corona-Pandemie hätte demzufolge sehr zeitnah eine sehr schwere Rezession sowohl in den USA als auch der Eurozone auslösen müssen.
Überbewertung von Prognosen und Selbstreferentialität
Selbstreferentialität entsteht dann, wenn Informationen oder Vorhersagen sich gegenseitig beeinflussen oder bestätigen, wodurch eine künstliche Verstärkung der ursprünglichen Annahmen entsteht. Menschen neigen dazu, Vorhersagen oder Einschätzungen zu viel Bedeutung beizumessen, insbesondere wenn sie von Experten oder komplexen Modellen stammen. Dies kann dazu führen, dass Anleger die Unsicherheiten und die inhärente Unvorhersehbarkeit von Ereignissen unterschätzen. Außerdem auch dazu, dass Investoren in einer Informationsblase gefangen werden, die ihre Fähigkeit einschränkt, alternative Perspektiven zu berücksichtigen und kritisch zu beleuchten. Um Selbstreferentialität zu vermeiden, sollten Marktteilnehmer aktiv nach abweichenden Meinungen suchen und ihre eigenen Annahmen regelmäßig hinterfragen. Nach unserer Auffassung sollten Modelle oder Prognosen grundsätzlich nicht die Entscheidungen treffen, sondern Leitplanken für die Diskussion über Entscheidungen bieten.
Fazit
Trotz aller Modelle, Prognosen und Expertenmeinungen werden Anleger in regelmäßigen Abständen von der Realität überrascht. Denn erst wenn endgültige Daten und Fakten vorliegen, kann mit Sicherheit gesagt werden, wer mit seinen Einschätzungen richtig lag und wer falsche Annahmen getroffen hat. Was aber können Investoren daraus für ihr eigenes Verhalten ableiten? Sind Prognosen aufgrund zu geringer Trefferquoten gänzlich sinnlos? Auf wessen Prognosen sollte man vertrauen?
Wir bei BlackPoint sehen Prognosen, Modelle, Einschätzungen und Expertenmeinungen keinesfalls als sinnlos an. Sie umschreiben Probleme und Lösungen, Daten und Fakten, Vermutungen und mögliche Wirkmechanismen. Damit führen sie uns auf direktem Weg in eine Auseinandersetzung mit den aktuellen und künftigen Themen und münden in Diskussion. Hierbei beschäftigt man sich ganz im Sinne der Dialektik bestenfalls mit einer These, einer Antithese und zieht in einer Synthese seine eigenen Schlüsse daraus. Ganz gleich, wessen Prognosen oder Meinungen man betrachtet, gilt es also immer, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen und eine möglichst große Menge anderer Standpunkte und Sichtweisen in Betracht zu ziehen. Selbst Meinungsführer, namhafte Institute oder öffentliche Stellen sind leider kein Garant für das exakte Eintreffen der skizzierten Zukunft. Diese kritische Reflexion ist daher stets auch Grundlage unserer eigenen Kommunikation an unsere Kunden.
Da wir uns der Unwägbarkeiten an den globalen Finanzmärkten bewusst sind, beruht unser Anlagekonzept auf einer langfristig tragfähigen und mehrdimensional diversifizierten Strategie. So sind die investierten Wertpapiere nicht nur nach Ländern, Währungen, Branchen, Geschäftsmodellen, Zinsrisiken und Risikoprämien diversifiziert, sondern auch nach Anlageklassen wie Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder Gold. Die Langfristigkeit unserer Investitionen mildert darüber hinaus die beständige Sorge über kurzfristige Prognosefehler. Des Weiteren fokussieren wir uns immer auf mehrere - aus unserer Sicht wahrscheinliche - Szenarien, um mögliche Entwicklungspfade besser antizipieren zu können.
Dem Investor wird unter ebendiesen Umständen die Aufgabe zuteil, sich trotz aller Unwägbarkeiten für geeignete Strategien zu entscheiden und diese konsequent umzusetzen – bestenfalls über längere Zeiträume hinweg. So werden im Zeitverlauf etwaige Fehler korrigiert und das investierte Kapital profitiert von dem Zusammenspiel aus Umsicht, Diversifikation und Langfristigkeit.